Meine liebe Sandra,
immer noch fegen
jede Menge Stürme übers Land. Die Blumen stecken alle schon die
Köpfe aus der Erde und doch ist es kalt. Nur manchmal, wenn man die
Sonne mal in mehr Ruhe auf der Haut, mitten im Gesicht spürt, ist
die Wärme fühlbar. Ich vermisse dich! Es wird nicht weniger, eher
tiefer.
Bald wirst du
22.
An einem 22. war
dein Leben zu Ende.
Ich kann dieser
Zahl nicht ausweichen. Wenn ich mal an ein Autokennzeichen schaue,
steht da mehr als oft eine 22.
An jedem 22. Tag
eines Monats fahre ich immer noch an die Unfallstelle und bringe
euch Blumen und Kerzen. Und immer noch nicht schaffe ich diese
Schritte allein. Immer noch weiche ich dieser Stelle aus. Eigentlich
weiche ich der ganzen Stadt aus, wenn ich kann.
Es kommt der
sechste Geburtstag ohne dich. Was hättest du in all den Jahren
getan? Hättest du immer noch Pathologin werden wollen? Wärst du noch
hier in unserer Nähe oder schon weit fort gezogen? Wie würdest du
wohl heute aussehen? Ich quäle mich gerade mit meinen Haaren herum.
Immer noch habe ich deinen Satz im Kopf, ich sollte mir doch endlich
mal das Pony wachsen lassen. Und immer wieder wage ich den Versuch
und scheitere doch. Und dann ist da wieder dein Satz in meinem Kopf.
Immer wieder schaue
ich mir Bilder von dir an, lasse die Minuten deutlich werden, in
denen diese entstanden sind. Dann bist du ganz lebendig in mir. Und
immer wieder kommt danach die Traurigkeit über die Zeit, die wir
nicht mehr miteinander teilen können. Trauer über die Verbindung
zwischen Tochter und Mutter, die wir nicht mehr leben können. Eine
Vertrautheit, die mir so niemand mehr geben kann.
Ich weiß heute nach
so langer Zeit, dass ich die Mütter, die ich damals ganz am Anfang
traf, die schon lange um ein Kind trauerten, mehr denn je verstehen
kann. Heute weiß ich, dass nichts mehr wird wie vorher, dass ihr uns
begleitet, aber dass eure Stimme, euer Gang, euer Duft - alles was
ihr wart, uns bis zum eigenen Tod fehlen werden. Und das niemand
eure Stelle einnehmen kann, uns trösten oder gar helfen kann. Es ist
und bleibt nicht fassbar - nicht realisierbar - nicht zu verstehen,
auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen. Unser Herz wird immer
einen großen Schmerz aushalten müssen.
Ich liebe dich, mein Kind. Würde zu gern mal deine Stimme hören,
dich mal im Traum sehen, irgendetwas - Hauptsache dich spüren und
fühlen.
Ich umarme dich ganz fest, schicke dir tausend Küsse ins
Sternenzelt, liebe Grüße auch für Tim und Timo,
deine Mama
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