20.12.2012 |
Mein geliebtes Kind,
in wenigen
Stunden geht das zehnte Jahr zu Ende, das zehnte Jahr ohne dich im
Hier und Jetzt. Ich durchlebe die alljährliche Achterbahnfahrt
meiner Gefühle. Ich versuche ohne Rast mich zu beschäftigen, keine
Pause zu zulassen, um nicht immer wieder zu versinken.
Mal kommen
Erinnerungen an die Oberfläche, die euch drei an vergangenen
Weihnachten spiegelt. Ich sehe dich süße kleine Maus, herausgeputzt
im Kleidchen oder Röckchen, höre dein längst vergangenes Geplapper.
Ich sehe uns Plätzchen backen in dieser kleinen Küche. Ich sehe wie
die kleinen Fingerchen den Teig kneten und rollen und stechen. Und
wie oft hast du mir zum Schluss noch beim Verzieren geholfen.
Wir haben
zusammen Adventskalender gebastelt. Noch nicht als du ganz klein
warst, das begann erst später. Deinen letzten habe ich vor zehn
Jahren in rasender Wut zerstört – bitte verzeih mir. Dein Tod hat es
mir unerträglich gemacht, ihn auch nur noch einen Tag länger zu
betrachten. Ich weiß noch, wie wir die Kugel-, Tannen-, und
Sternenhälften bemalt und beklebt haben. Zum Schluss hingen alle
Sterne, Kugel und Tannenbäume gefüllt an eurem Treppengeländer. Er
ist nicht mehr bis zum letzten Tag geleert worden. Und ich hielt es
nicht aus, ihn zu betrachten. Ich war rasend vor Trauer, Schmerz und
Wut.
Ich habe lange
gebraucht es wieder zu beginnen. Erst bekamen deine großen Brüder
und jetzt auch die Kleinen wieder Adventskalender, auch in
Erinnerung an dich! Das ist eines der Dinge, die ich wieder tue,
immer mit dir im Herzen und in meinen Erinnerungen.
Ich singe mit
den Kleinen die „Weihnachtsbäckerei“ so wie damals mit euch, ich
sehe dich tanzen zu den „Dezemberträumen“ im Tanzkleidchen mit
deinem ersten kleinen Robert-Freund. All das habe ich mir bewahrt
und es tut gut. Ich sehe dich mit deinen Brüdern „einkaufen“
spielen. Der Weihnachtsmann hatte euch einen Kaufmannsladen
gebracht. Ich sehe dich mit deiner „Baby Born“ spielen – anziehen,
ausziehen, rein in den Puppenwagen, raus aus dem Puppenwagen,
füttern, lieb haben. Ich weiß noch genau, wie wichtig dir deine
Mäuschen waren – Spidi und Gonzales. Wie du sie in deinen Ärmeln
durch die Wohnung trugst. Und deine Seidenmalerei. Jedes Jahr vor
Weihnachten hast du viele Sachen gestaltet, Tücher für die Oma’s,
Krawatten für den Papa. Alles hast du großzügig verschenkt. Zwei
deiner Tücher zieren als Bilder unser Zuhause. Dein Weihnachtsmobile
hängt immer an Weihnachten über der Truhe.
All das sind
wundervolle Erinnerungen und ich bin dankbar für jede einzelne.
Aber es gibt
diese eine Nacht, die es uns unmöglich macht für alle Zeit, eine
neue Seite in unserem gemeinsamen Lebensbuch zu schreiben. Vor zehn
Jahren hat sich dein Buch geschlossen und es gibt keine zweite
Chance. Ich werde immer versuchen zu glauben, dass die unsichtbare
Nabelschnur uns immer noch verbindet, du mir Zeichen deiner Liebe
schenkst, indem du ein Stück meines Lebens mit mir gehst, mir Engel
und Wunder schickst.
Ich liebe dich
und vermisse dich unendlich schmerzlich. Ich werde nachts wach vor
Kummer, ich höre Musik und breche in Tränen aus, mich braucht
zurzeit nur einer auf dich anzusprechen und es bricht heraus. Der
Schmerz sitzt immer noch genauso tief, die Schultern fühlen sich
schier erdrückt, die Brust schmerzt, mein Herz rast, mein Magen
rebelliert. Die Zeit heilt keine Wunde – jedenfalls kann ich diese
Floskel nicht bestätigen. Sie mag auf Kratzer zutreffen, vielleicht,
aber ein solcher tiefer seelischer Schaden lässt sich nicht mit Zeit
heilen. Die Zeit hilft mir zu lernen mit dem Unaussprechlichen, mit
dem Unfassbaren zu leben. Aber geheilt ist nichts. Nur eingehüllt,
ummantelt, unter dem Alltag versteckt. Ich werde dich immer mit dem
gleichen Kummer vermissen - zehn Jahre - was für eine lange Zeit.
Ich gehe den Weg wie so viele vor mir, mit mir und die die noch dazu
kommen werden. Ich fühle mich ihnen in Stille verbunden.
Ich werde immer
Kerzen für dich entzünden, ich werde in jedem sonnigen Tag dein
Lachen spüren, ich werde an jedem Regentag meine Tränen in den
Himmel schicken, ich werde bei jedem Regenbogen dir ein Stück
entgegen kommen, ich werde hier bleiben und auf deine Brüder achten
und ein Stück von deiner Liebe an sie weitergeben. Aber nie werde
ich wieder so unbeschwert lachen, wie in Zeiten, als du noch bei uns
warst und das Leben scheinbar schwerelos war. Immer wird etwas in
mir suchen nach dir, nach dem was du mir einmal warst – meine von
Herzen geliebte Sandra.
Wenn mir jemand
sagt, dass du sicher nicht wolltest, dass ich immer noch traurig
bin, so mag derjenige vielleicht Recht haben. Aber ich habe noch
keinen gefunden, der mir zeigt oder erklärt, wie ich diese eine
Nacht ausblenden soll. Ich habe den Schalter noch nicht gefunden.
Aber ich habe Mütter und Väter in den zehn Jahren kennen gelernt,
denen ähnliches widerfuhr. Es war niemand bis jetzt dabei, die ihr
„verlorenes“ Kind nicht traurigst vermissten. Wir lachen zusammen
und wir weinen zusammen, aber vor allem wir lassen euch leben, weil
wir von euch erzählen. Wir finden Worte in Gedichten und Liedern
über unser Leben mit und ohne euch. Und wir halten uns, wenn mal
wieder einer im Strudel der Traurigkeit versinkt.
Mein Kind, all
die, denen du in deinem kurzen Leben wichtig warst, werden in diesen
Tagen an dich denken, mit dir sprechen, dich noch einmal in ihren
Gedanken sehen.
Ich steige
wieder meinen schwersten Berg hinauf, jedes Jahr zur gleichen Zeit,
immer weiter, immer weiter, bis zur völligen Erschöpfung. Es wird
der Tag kommen, an dem du mir die Hand reichst und ich nicht ohne
dich wieder zurückkehren muss.
Ich liebe dich,
mein großes Mädchen, umarme dich in Gedanken ganz fest, halte dich
fest, streichele dir über deine langen Haare und schicke dir Küsse
in den Himmel.
Ich vermisse
dich seit zehn Jahren schmerzlichst, ich werde dich immer voller
Traurigkeit vermissen – die Jahre spielen keine Rolle.
In tiefer
innerer Verbundenheit, mit Tränen in den Augen, gebe ich dich wieder
an deine stille Welt zurück und begebe mich ein weiteres Jahr auf
den Weg zu dir.
Deine dich immer
liebende Mama
Erinnerungen
sind kleine Sterne,
die tröstend in das Dunkel
unserer Trauer leuchten.
*weiter*
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